In China essen sie Hunde – von Swen O. Heiland

– aber nur im Winter. 2007 ging es für uns auf Asienreise. Innerhalb von wenigen Wochen spielten wir mit der Dortmunder Band Gammalux zusammen eine Reihe von Shows in China, Thailand, Malaysia und Singapur. Hier ein kleiner Rückblick auf diese wahnsinnig intensive Zeit. Und zwar quasi in Echtzeit, denn hier greifen wir auf Erinnerungen zurück, die ich zum größten Teil direkt im Anschluss an unsere Asientour verfasst habe; es schreibt also vorwiegend mein jüngeres Ich mit ein paar wenigen Ergänzungen (und ja, heute würde ich vieles anders aufschreiben und bewerten – aber dazu habe ich ja noch Gelegenheit).

Es ist der 30. April 2007, wir sitzen mit gestimmten Instrumenten im Backstagebereich von Dortmunds größtem Open Air Festival, Rock in den Ruinen. In fünf Minuten ist Showtime, es ist die letzte Show, bevor wir morgen früh in den Flieger Richtung Peking steigen. Nach einer Stunde, die wie im Flug verging, ist auch das „Abschiedskonzert“ vorbei, und wir blicken dem Land der aufgehenden Sonne entgegen. Man kennt uns in Dortmund, wir werden gefeiert. Wie wird das ab morgen sein, 11.000 km von Deutschland entfernt?

Am Nachmittag kommt unser Flugzeug (dank sechsstündiger Zeitumstellung) pünktlich in Peking an. Wir werden von einem Mitarbeiter der internationalen Musikschule in Empfang genommen und zum Hotel gebracht. Brütende Hitze, knapp 35° Celsius bei 95% Luftfeuchtigkeit und der starke Smog machen uns wie auch unseren Instrumenten bereits nach wenigen Minuten zu schaffen, aber keine Zeit, sich damit zu beschäftigen: wir müssen uns für die erste Show bereit machen, die schon in drei Stunden starten soll – in der New Get Lucky Bar, mitten in Pekings Amüsierviertel.

Ein großes Problem sind die Sprachprobleme, die entstehen, wenn der Soundtechniker lediglich chinesisch spricht (was hier Standard ist; Englisch war damals leider die Ausnahme) und man sich gegenseitig mit Händen und Füssen zu verstehen geben muss, was man eigentlich voneinander will. Bis man ein drittes Gesangsmikrofon auf der Bühne hat, können durchaus zehn Minuten vergehen.

Dieses Problem sollte sich aber durch alle Shows in China ziehen, wie auch ein anderes: man verwechselt uns ständig. Ein Veranstalter, des Englischen mächtig, spricht erst mich mit „Ah, James, der Sänger!“ an, kurz darauf unseren Schlagzeuger mit denselben Worten, dann wirklich unseren Sänger, bevor er erneut laut „James“ ruft und mich zu sich winkt. „My Name is Swen“. Oh ja, „of course“. Er muss lachen. Wir Franzosen, so versichert er mir mit einem Lächeln, sähen eh alle gleich aus. Ich gebe ihm Recht.

Mittlerweile können wir bereits einige Dinge über die Live-Kultur im fernen Osten festhalten: was bei uns minutiös geplant ist, läuft hier spontan. Besser ist, man peilt ohne Zeitdruck die Location an, erwartet erst gar keinen „Soundcheck“ und wartet auf die Probleme, die sich dem Musiker stellen, sei es die Stromversorgung, sprachliche Barrieren oder ungesicherte Bühnen. Von einer Institution wie dem TÜV hat hier noch niemand etwas gehört.

Alles vergessen, sobald uns das Publikum mit offenen Armen empfängt. Mit einem großen Nachholbedarf an Rock’n Roll ausgestattet, lechzen die Konzertbesucher quasi nach westlichen extrovertierten Musikern, die ihr Herz auf der Bühne ausleben. Dreihundert Fans, ausverkauftes Haus und ein belagerter
Merchandise Stand in Cheng Du, einer Stadt, von der wir bis vor ein paar Wochen noch nie in unserem Leben gehört hatten, ist ein Beispiel dafür. Á propos Merch: den haben wir extra in China produzieren lassen, da es schier unmöglich gewesen wäre, unsere in der EU hergestellten Produkte vor Ort zu verkaufen: hätten wir eine CD und Shirt zum Einkaufspreis in Yuan nach einem Konzert angeboten, wäre das dem Monatseinkommen eines Arbeiters gleichgekommen, also ließen wir in weiser Voraussicht Shirts und eine spezielle Asia-EP, die es nur auf dieser Tour gab (und die in Europa meines Wissens nur Uwe Lerch und meine Herzdame besitzen), in China herstellen. Die CD-Verpackungen waren aus Papier und mit der Hand zusammengenäht. Ich möchte bis heute nicht wissen, von wem und welchen Lohn es dafür gab; hinterfragt haben wir solche Dinge 2007 allerdings auch natürlich nicht im Geringsten.

Zurück zum Positiven: während der „typische Konzertbesucher“ in Deutschland zumindest in den Metropolen übersättigt wirkt, da er jeden Abend die Wahl zwischen mehreren Livekonzerten haben kann, weiß man hier im Osten noch ehrliche Arbeit zu schätzen; wird die schweißtreibende Show auf der Bühne mit mehr als artigem Applaus gewürdigt. Mit anderen Worten: die Leute gehen richtig ab. Moshpit, Stagediving – das volle Programm. Nach dem Konzert Autogramme, Fotos, Bierdusche und ab ins Hotel – morgen geht es weiter im Flieger. So fühlt sich das Rockstarleben also an.

Zu den übrigen Bands – wir haben am Abend zwei bis vier (!) Vorbands. Passt das zeitlich? Es passt. Jede Band präsentiert lediglich drei bis vier Stücke. Covern erlaubt? Ja. Viel. Das Niveau ist zudem ein anderes als in heimischen Gefilden. Viele Bands scheinen hier zu spielen, weil sie sich die Instrumente leisten können. Musikalische Qualität klingt anders.

Die klimatischen Bedingungen sind leider tödlich für die Instrumente und unsere elektronischen Geräte. Die Saiten sind nach kurzer Zeit, spätestens einem Auftritt, vom Rost zerfressen, die Stimmgeräte fallen teilweise aus, Funksets verabschieden sich und schließlich erwischt es auch nach und nach unsere Handy-Displays. Alles zollt der extrem hohen Luftfeuchtigkeit Tribut.

Insbesondere bei bis zu 13 Stunden dauernden Zug-, Schiff- oder Busfahrten (die Inlandsflüge sind hier luxuriöse Ausnahmen) zehren die Bedingungen auch an unserer Gesundheit. Zwei Fieberfälle bringen so manche Show ins Wackeln, die Aussicht auf weitere großartige Shows lässt jedoch jeden auf die Zähne beißen.


Leider haben wir zwischen den Shows und den damit verbundenen Reisen nur wenig Zeit, um uns das Land näher anzuschauen. Die große Mauer habe ich lediglich vom Flugzeug aus gesehen, außer ein paar Tempelanlagen und sozialistischen Bombastbauten konnten wir wenige touristische Attraktionen besuchen. Aber man ist ja auch zum Arbeiten hier, so sah ich das zumindest damals in 2007. Fehler. Weiß ich heute. Aber ich bin ja lernfähig. Und immerhin lernten wir viele offene Leute und ihre Gepflogenheiten kennen. So konnte ein Vorurteil, wenn auch nicht aufgehoben, so doch korrigiert werden: ja, in China essen sie Hunde. Zwar greifen immer weniger Chinesen zu, doch man findet weiterhin Hund auf der Speisekarte. Allerdings nur im Süden Chinas. Und das nur im Winter. Auf unsere Frage weshalb, erklärt man uns, das Fleisch wärme den Körper. Aha. Wieder etwas gelernt.

Der Weg nach Thailand führt uns über Hong Kong, wo wir einen freien Tag und Sightseeing vor uns haben. Vor der Einreise haben wir allerdings eine gehörige Portion Respekt und fürchten, einige aus unserem Reisetross hinter uns lassen zu müssen: in Hong Kong gab es seit Ausbruch der Vogelgrippe extrem scharfe Einreisebedingungen und Gesundheitschecks noch vor der Passkontrolle. So werden unser Sänger und ich auch angehalten, unsere Caps und Sonnenbrillen abzunehmen und der mit einem Mundschutz einem Chirurgen im OP gleichenden Beamtin der Gesundheitsbehörde in die Augen zu sehen, worauf diese uns eindringlich anschaut und passieren lässt. Alle kommen durch die Kontrolle. Nochmal Glück gehabt. Hinter uns ziehen sie einen Passagier aus dem Verkehr, prüfen seine
(anscheinend erhöhte) Temperatur und verweigern ihm die Einreise. Aus heutiger Sicht mit der 2020-2022 erlebten Corona-Pandemie (und ja, in Wuhan waren wir 2007 übrigens auch mit einem Konzert zu Gast) war das damals schon ein Vorgeschmack auf das, was fünfzehn Jahre später zwischenzeitlich als das „neue Normal“ in Deutschland galt. Hoffen wir, dass diese Zeiten zukünftig an uns vorbeigehen.

Von Hong Kong geht es weiter nach Bangkok. Vor uns liegen weitere Konzerte in Thailand, Malaysia, Singapur und Dubai. Während in Thailand, besonders in Bangkok, alles bereits sehr westlich orientiert ist, wirft uns die thailändische und malaysische Provinz noch mal in urige und vom westlichen Standard her betrachtet spartanische Gegenden zurück. Die Verkäufer links und rechts der dicht bevölkerten Straßen bieten frittierte Insekten wie Kakerlaken oder Heuschrecken an; in kleinen Restaurants abseits der Hauptstraßen werden frisch (?) gebratene Ratten angeboten. Wir lehnen, obwohl uns der Magen knurrt, dankend ab und suchen ein Internetcafé, die letzte Möglichkeit der Kommunikation, nachdem unsere Handys ja bereits zuvor den Geist aufgegeben hatten. Große bunte Schilder weisen uns den Weg: „High Speed Internet“ mit bi zu 128 kb/s. Das in Zeiten von DSL, aber wir begnügen uns mit den Gegebenheiten vor Ort und beobachten während des Email-Schreibens die Geckos und anderes Getier an der Wand.

Wir fahren mit Booten und Tuc-Tucs durch die Stadt und erleben die aberwitzigsten Geschichten. Zwischendurch immer wieder Foto- und und Autogrammwünsche, was aber vor allem an unserem Drummer Olaf lag, der mit seiner imposanten Körpergröße sowie den Drachen, die unter seinem Irokesenschnitt auf seinen kahlgeschorenen Schödelseiten prangen, die Asiaten magisch anzieht. Unwirklich. Aus heutiger Sicht sieht es in meinen Erinnerungen genauso aus, wie wenn ich mich an einen Actionfilm, vorzugsweise James Bond – „Der Mann mit dem Goldenen Colt“, erinnere, den ich in meiner Kindheit gesehen habe.

Ab Kuala Lumpur erwarten uns aber nur noch nahezu luxuriöse Umstände: die malaysische Hauptstadt ist wie auch Singapur und Dubai komplett westlich geprägt.

Gerade in Singapur werden die Unterschiede in der Jugendkultur zwischen West und Ost marginal. Unser Publikum trägt hier dieselben T-Shirts wie bei unseren heimischen Konzerten, die Frisuren sind identisch, nur außerhalb des Clubs läuft das Leben anders ab. Die starken gesetzlichen Einschränkungen und zahlreichen Verbote im Inselstaat Singapur machen die Stadt zu einer Oase der Sauberkeit und des gepflegten Umgangs. Kaugummi kauen auf offener Straße ist immer noch verpönt; die Einfuhr sogar untersagt. Viele Vergehen stehen unter der Androhung von Rohrstockschlägen und Drogenbesitz wird mit dem Tod durch den Strang bestraft. Jedenfalls sind nicht alle in unserem Reisetross so entspannt wie ich (und das wahrscheinlich aus gutem Grund). Der falsche Platz für eine Rock’n Roll Band?

Never! Die Show in Singapur wird zu einem Highlight der Tour: während wir in der Red Bar auf dem Extreme Music Festival spielen, wird die Bühne von den elektrisierten Fans fast gestürmt. Überall um uns herum sind Menschenmassen, die scheinbar nur auf unseren Auftritt gewartet haben. Nicht nur scheinbar. Myspace (ja, das war so etwas wie der Vor-Vorgänger von TikTok, Instagram und Co., allerdings noch ohne Filterfunktionen und sonstige negativen psychologischen Wirkungen, die es heute so unerträglich machen, sich in „sozialen“ Netzwerken aufzuhalten) macht es möglich, dass sich unsere Anwesenheit herumgesprochen hat; auch der Nachwuchs vieler deutscher Auswanderer mischt sich unter das Publikum. Wir feiern eine rauschende Ballnacht und sind unendlich zufrieden. Mit uns, der Welt, der Musik. Kurz vor dem Ende unserer Tour neigen sich auch unsere letzten T-Shirt und CD-Vorräte dem Ende. Gut so.

Der Trip nach Dubai verläuft ohne weitere Zwischenfälle. Die Vereinigten Arabischen Emirate empfangen uns mit offenen Armen. Zwei weitere Nächte hier, und wir sind zurück auf heimischem Boden. Dubai ist eine Stadt mitten im Aufbruch. Die Neuorientierung des Landes in Richtung Tourismus fällt einem an jeder Ecke ins Auge. Riesige Hotelanlagen, die im Bau befindlichen Palmeninseln und die Möglichkeit, bei 50° Celsius Außentemperatur in einer Skihalle dem Wintersport nachgehen zu können, spiegeln unser Bild von dieser Stadt wider. Wenn man sich ordentlich bewegt in der Wüste und viele Kilometer Sightseeing zurücklegt, kann man mit guten fünf Kilogramm an Flüssigkeitsverlust später bereits am frühen Abend ins Bett fallen. Warum wird plötzlich Zeit fürs Shopping (wobei, viele Dollars waren nicht mehr in unseren taschen…) hatten? Unser Konzert im Skate Park in Dubai fiel aus. Egal. Die Motivation, jetzt noch fieberhaft nach einer Ersatzshow zu suchen war selbst bei mir nur noch gering ausgeprägt und das wollte etwas heißen. Überwältigt von den Eindrücken der letzten Wochen genießen wir die Ruhe im Hotel
und sehen dem Rückflug nach Deutschland mit einer Portion Freude und asiatischem Abschiedsschmerz entgegen. Eine großartige Erfahrung zusammen mit unseren Freunden von Gammalux, deren Gitarrist Chris Stange die Tour perfekt organisiert hatte. Zudem lernten wir unseren Freund Joe Seeling kennen, der uns schon in Kürze bei unserer Tour in den USA helfen würde.

Kaum zurück und das Jetlag-Symptom überwunden, steht unser „offizieller“ Tourabschluss an: im Kultopia in Hagen, knapp 20km von unserer Heimatstadt entfernt. Willkommen zurück. Fünf Minuten vor der Show klingelt ein Handy. Wir werden auf eine Russlandtour im darauffolgenden Monat eingeladen. Stadionshows mit den Scorpions und Deep Purple stehen an. So sagt man uns. Es wird ein unglaublicher Trip werden. In vielfacher Hinsicht. Unsere Koffer können fürs Erste jedenfalls gepackt bleiben und wir werden die kurze Zeit dazwischen im Studio verbringen, um unser neues Album „Fuck Your Neighbour“ einzuspielen.